von MOPO / Olaf Wunder /

Marek R. litt unter Angstzuständen und Verfolgungswahn: Warum entsprach man seiner Bitte, in eine Einzelzelle verlegt zu werden?

Er war krank. Er litt unter Angstzuständen und Verfolgungswahn. Bereits im September hatte er versucht, sich das Leben zu nehmen. All das wussten die Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel – zumindest hätten sie es wissen müssen. Und doch: Als der Strafgefangene Marek R. am 25. Dezember mit der Begründung, er habe Angst, darum bat, in eine Einzelzelle verlegt zu werden, erfüllte der Schichtführer diesen Wunsch – ohne Rücksprache mit einem Psychiater. Am folgenden Tag um 13.21 Uhr konnte ein eilig herbeigerufener Arzt nur noch den Tod feststellen.

Die Geschichte von Marek R.: Sie beginnt rund 600 Kilometer von Hamburg entfernt. In der polnischen Stadt Tczew – zu deutsch: Dirschau – wird er am 30. August 1973 geboren. 1989 siedeln seine Eltern nach Hamburg über und nehmen ihren 16-jährigen Sohn mit. Marek besucht die Schule, schafft aber keinen Abschluss. Auch einen Beruf erlernt er nicht. Er jobbt als Automechaniker, Gerüstbauer und Steinsetzer – und rutscht ab. Gemeinsam mit Landsleuten klaut er Autos und Autoradios.

Schon wenige Monate nach seiner Ankunft in Hamburg hat Marek Katharina kennen gelernt, die genauso alt ist wie er und ebenfalls aus Polen stammt. Beide sind 18 Jahre alt, als 1991 Angelo geboren wird, das erste von drei Kindern. Es folgen 1994 Rico und 1996 Angelika. Ihr Mann habe seine Kinder über alles geliebt, erzählt Ehefrau Katharina und kramt Fotos hervor, auf denen Marek und die drei toben und schmusen.

Im April 1998 bekommt Marek R. die Quittung für seine Raubzüge. Als er versucht, mit seinen Komplizen vier Autos zu knacken, verhaftet die Polizei ihn. Ihm wird der Prozess gemacht: Drei Jahre und ein Monat – so lautet das Urteil des Richters. Eine sehr lange Zeit wird der Mann von seiner Familie getrennt sein. Unter der Abwesenheit des Vaters leiden vor allem die Kinder. „Wann kommt denn Papa wieder?“ fragen sie immer wieder. „Der ist jetzt bei der Armee“, lautet die Notlüge der Mutter. „Ihr müsst wissen: Soldaten bekommen am Anfang keinen Urlaub.“

Im Gefängnis verändert sich Marek R. auf seltsame Weise. „Er fühlte sich von jedermann verfolgt“, berichtet seine Frau unter Tränen. „Von den Beamten, von den Mitgefangenen, ja, sogar von seiner Rechtsanwältin und mir.“ Als er sich im September 2001 erstmals die Pulsadern aufschneidet, will er wahrscheinlich gar nicht sterben. Seine Frau glaubt: „Er wollte nur auf seine Lage aufmerksam machen, weil man ihn für einen Simulanten hielt.“

Der MOPO liegt die Krankenakte des Gefangenen vor. Die Anstaltspsychologin notiert am 2. Oktober 2001: „… Heute reagierte Hr. R. bereits auf die Ansprache extrem paranoid und aggressiv. Er erklärte, ich verfolge ihn und stelle – wie auch seine Ehefrau – die Ursache seiner Paranoia dar … Er wünsche, endlich in Ruhe gelassen zu werden … Aus psychologischer Sicht befindet sich Hr. R. in einer akuten psychischen Krise, in der auch Suizidhandlungen nicht ausgeschlossen werden können. Die Beobachtung sollte m. E. unbedingt beibehalten werden.“

Zwei Tage später stellt ein Arzt die Diagnose: „Akute haftreaktive paranoide Psychose. Herr R. trachtet danach, paranoide Gedankeninhalte zu verbergen und – normal! – zu wirken.“ Ihm werden starke Psychopharmaka in großen Dosen verordnet: Haldol, Tavor und Akineton.

Der nächste Eintrag datiert auf den 4. Dezember. „Patient möchte die Medikamente absetzen. Er fühle sich wohl, mache Sport, sei guter Dinge.“ Die Entscheidung des Arztes: „Medikamente absetzen! W(ieder)V(orführung) (in) 14 Tagen.“

18. Dezember: „Schläft gut. Psychopathologisch unauffällig. W(ieder)V(orführung) bei Bedarf.“
Am 25. Dezember, dem Ers-ten Weihnachtstag, beantragt Marek R., in eine Isolationszelle verlegt zu werden. Ein Wachmann notiert auf dem Formular folgende Bemerkung: „Hat Angst.“ Aber statt einen Psychiater zu Hilfe zu rufen – denn es sind ja gerade Angstzustände, unter denen der Gefangene leidet! – erfüllt der Beamte den Wunsch und sperrt ihn in eine Einzelzelle.

Am darauffolgenden Tag erhält Katharina R. einen Anruf aus der JVA: Nicht von der Anstaltsleitung, sondern von einem Mithäftling wird sie darüber informiert, dass etwas passiert sein müsse: Die Zelle ihres Mannes sei voller Blut. Als daraufhin Christiane Yüksel, die Rechtsanwältin von Marek R., in der Anstalt nachfragt, dauert es eineinhalb Stunden, bis sie Auskunft erhält. Gegen 17.30 Uhr – fünf Stunden sind seit dem Selbstmord vergangen – erfährt die Ehefrau endlich, was mit ihrem Mann geschehen ist.

Wie eigentlich kam Marek an die Glasscherbe, mit der er sich die Pulsadern aufschlitzte? Der Anstaltsleiter beantwortet diese Frage am nächs-ten Tag mit den Worten: „Die liegen hier überall rum.“ So jedenfalls zitieren ihn Rechtsanwältin Yüksel und die Frau des Toten. Die Frage, ob denn Marek R. nicht durchsucht worden sei, bevor er in Isolationshaft kam – eine durchaus übliche Maßnahme – verneint der Anstaltsleiter: Dazu habe kein Anlass bestanden.

Morgen wird Marek R. beerdigt. Seine Kinder haben bis heute nicht realisiert, dass ihr Vater tot ist. Sie glauben noch immer, er sei bei der Bundeswehr. Ehefrau Katharina R. hat inzwischen versucht, die Habseligkeiten ihres Mannes aus dem Gefängnis abzuholen. Vergeblich. Der Anstaltsleiter soll ihr den Zutritt mit den Worten verweigert haben, er sei der „Hausherr“.

Ein Racheakt? Möglicherweise. Denn Katharina R. hat Strafanzeige gegen Unbekannt erstattet. Sie will, dass diejenigen bestraft werden, die sie für verantwortlich am Tod ihres Mannes hält.